Eine Form der Geselligkeit



Westerwälder Steinzeug im Streitberger Lindenhof-Museum zu sehen

Bowlen der Steinzeugwerke  Höhr-Grenzhausen.  Der Entwurf stammt vermutlich  von Hans Wewerka (um 1912) (Foto: Löchl)

Brachttal Streitberg (dl). Bei größeren gesellschaftlichen Anlässen und Feiern gehörte es bei unseren Eltern und Großeltern zum guten Ton, eine Bowle mit den jahreszeitbedingten Früchten auf den Tisch zu bringen. Bis in die 60er·Jahre des letzten Jahrhunderts hatte nahezu jede Familie ein Bowlengefäß, das aus Familienbesitz stammte und für Feierlichkeiten mit dem edlen Getränk nach allem Familienrezept bestückt wurde. In geselliger Runde war das Bowlengefäß oft Mittelpunkt des festes.Die Bowlen wurden nicht selten von namhaften Künstlern entworfen. Klaus-Dietrich Keßler hat besonders schön gestaltete Exemplare der Westerwälder Manufakturen aus der Zeit des Biedermeier, Historismus und Jugendstil gesammelt und in einer Sonderausstellung im Lindenhof-Museum präsentiert.

Die Veranstaltung hatte großen Zulauf, schließlich gab es da nicht nur eine außergewöhnliche Sammlung zu besichtigen, sondern zusammen mit seiner Frau Marlies hatte er für die Besucher eine leckere Maibowle und eine Bowle mit frischen Erdbeeren angesetzt.

Entstanden sind die 19 ausgestellten Bowlengefäße Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts im sogenannten "Kannenbäckerland" Westerwald. Sehr umfangreiche, gut nutzbare Tonvorkommen begünstigten die traditionelle Herstellung von Steinzeug, die seit dem 15. Jahrhundert dort betrieben wird. Es gibt zwei verschiedene Herstellungsverfahren: Das Steinzeug wird schon beim Brennen Wasserundurchlässig, das Feinsteinzeug muss nach dem Brennen noch durch eine Glasur wasserdicht gemacht werden. Bei beiden Verfahren bekommt das Werkstück erst durch die, in der Regel hellgraue, Glasur mit kobaltblauen Dekoren sein endgültiges charakteristisches Aussehen.

Dem Rückgang der Nachfrage Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Steinzeugwerke Im Westerwald Einhalt zu gebieten, indem namhafte Jugendstilkünstler wie Henry van de Velde, Albin MülIer, Richard Riemerschmid, Peter Behrens oder Paul Wynand für die Entwürfe neuer Steinzeugwaren verpflichtet wurden. Einem Schüler von Ernst Barlach, Hans Wewerka, hat Keßler vermutlich eines seiner schönsten Stücke zu verdanken. Der mit einem trompetenden Engel versehene Deckel erinnert an eine Skulptur von Barlach und ist wahrscheinlich 1912 in den Steinzeugwerken Höhr-Grenzhausen entstanden.

Ob vom Jugendstil beeinflusst, mit klar strukturierter Form, gegenständlich verspielt oder mit prunkvollen Verzierungen überladen, ist jedes Exponat ein sehenswertes Monument früherer Geselligkeitsformen. Wie der trompetende Engel auf dem Deckel der Wewerka-Bowle gibt es bei ledern Ausstellungsstück liebevoll arrangierte Details und Formen zu entdecken, die zu Zeiten der Nutzung dieser Gefäße sicher so manchen Betrachter davon abgehalten haben, zu tief in den eigenen Becher zu schauen. Apropos Becher: Diese zu den Bowlengefäßen zugehörigen Accessoires sind nur noch selten erhalten geblieben. Sei es, dass man mit ihnen weniger sorgfällig umgegangen ist, oder dass sie später für andere Getränke benutzt wurden und dadurch vom Bowlen-Körper getrennt wurden, lediglich für zwei Gefäße konnten die Keßlers die passenden Becher auftreiben. Klaus-Dietrich Keßler hat die meisten Exponate in den 80er Jahren auf einem Flohmarkt in Bochum für durchschnittlich 50 Mark pro Stück erstanden. Heute sind die unter Sammlern sehr begehrten Stücke sicher ein Vielfaches wert, doch die Bedeutung, die sie zu Ihrer Entstehungszeit für die Geselligkeit hatten, kann heute nur noch erahnt werden.

Quelle: Gelnhäuser Neue Zeitung 09.05.2009

Aktualisiert (Freitag, den 24. September 2010 um 14:05 Uhr)