Mit Steingut durch die Epochen



VON JÖRG ANDERSSON

Anfangs haben die Kesslers ihre Sammlung nach einfachem Rezept zusammengestellt. "Wir haben gekauft, was uns gefallen hat", berichtet das Ehepaar, das Mitte der 90er mit hunderten von Umzugskisten nach Streitberg zog, um sich das Leben neu einzurichten. Ein altes Fachwerkhaus mit Scheune, weit ab vom Ruhrgebiet, wo Marlies und Klaus-Dietrich Kessler ihre letzten zehn Berufsjahre verbracht hatten. Sie bei einer Bank in Bochum und er, ursprünglich in der gleichen Branche tätig, zuletzt als Gewerkschaftssekretär. Im Ruhestand ist das Ehepaar nicht. Beide engagieren sich bei der örtlichen SPD, er in der Gemeindevertretung, sie als Ortsvereinsvorsitzende.

Ein Café oder etwas ähnliches schwebte den Kesslers vor, als sie ihr Anwesen in dem fast 400 Meter hoch gelegen Dorf restaurierten. Seit fünf Jahren ist der Lindenhof ein privates Keramik-Museum mit einigen tausend Exponaten. Fasziniert von vielfältigen Dekoren aus der Waechtersbacher Steingutfabrik, auf die Klaus-Dietrich Kessler zufällig bei einer Haushaltsauflösung aufmerksam wurde, haben später beide nicht mehr davon lassen können, ihren Bestand bei jeder Gelegenheit zu vergrößern. "Während andere Urlaub machen, stöbern wir auf Trödelmärkten", so Marlies Kessler.

Dabei hat sich der ursprünglicher Gedanke, die Entwicklung der Waechtersbacher Keramik vollständig zeigen zu können, als "Illusion" erwiesen. Nun ist die Sammlung ein Querschnitt von Biedermeier über Jugendstil bis zur neuen Sachlichkeit. Den Schwerpunkt bildet der Historismus und die Fabrikationszeit von 1874 bis 1890 unter Max Roesler. "Er war Chemiker, Kaufmann und sozial eingestellt", ergänzt Kessler. Unter Roesler sei Waechtersbacher in die Spitze der deutschen Steingutproduktion aufgestiegen und habe eine unendliche Vielfalt an Formen und Dekoren produziert.

Schon der erste Blick ins Museum lässt die Bandbreite aus 175 Jahren Steingutproduktion vom Kunstgegenstand bis zum schlichten Gebrauchsgeschirr erahnen: Kirchenleuchter, Schirmständer, Nachttöpfe, Wandkacheln und ein mit Holz kombiniertes Schmuckablagekästchen im Jugendstil. Die Firma habe ihr Archiv noch nicht vollends wissenschaftlich ausgewertet. Immer wieder kamen neue Prospekte in den Handel. Produktionsbeginn oder -Ende sowie die Stückzahlen sind in der Regel unbekannt. "Vielfach wissen wir nicht, ob es sich um ein Einzelstück handelt und was in Serie gegangen ist", erzählt Kessler, der in Frankfurt geboren wurde und dort Jahrzehnte bei der Bethmann-Bank arbeitete. "Etliche Formen seien später in den Hohlwegen schlicht entsorgt worden, wissen die Kesslers von Spaziergängen durch den Wald und Scherbenfunden entlang der Bracht.

Pragmatisch habe sich das Unternehmen an den Zeitströmungen orientiert. "Formen und Dekore sind immer wieder neu verschmolzen", erzählt Kessler und deutet auf ein bürgerliches Art-déco-Design mit NS-Parolen. Oder er zeigt eine ovale Teekanne der Designerin Ursula Fesca, deren ovales Geschirr von den 30er bis in die 60er Jahre produziert wurde.

Exponate wie eine Visitenkartenschale für die moderne Frau sind Zeitdokumente. Bei vielen Besuchern wecken die Ausstellungsstücke Erinnerungen. Kessler: "Das vermittelt Lebensgefühl." Am intensivsten ist der Wiedererkennungseffekt beim Haushaltsgeschirr aus den 30er bis 50er Jahren: Das haben die Kesslers in einem turmförmigen, neuen Ausstellungsraum drapiert, einem ehemaligen Futtersilo.

Das Lindenhof-Museum, Lindenstraße 2 in Brachttal-Streitberg ist jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 18 Uhr sowie auf Vereinbarung unter Telefon 0 60 54 / 67 14 geöffnet. Der Eintritt frei, um eine Spende wird gebeten. Am Samstag, 9. August, ist zudem von 18 bis 1 Uhr eine Museumsnacht mit Vortrag.

Quelle: Frankfurter Rundschau 08.07.2008

Aktualisiert (Freitag, den 24. September 2010 um 14:17 Uhr)